Osterwasser
Ostern steht vor der Tür. Das wichtigste Fest des Christentums, an dem die Christen den Sieg des Lebens über den Tod feiern. Als kleines Kind verbrachte ich viel Zeit mit meiner Großmutter, einer geschiedenen protestantischen Frau, die mehr oder weniger glücklich in der Gemeinschaft unserer Heimatstadt lebte. Eine Frau, die regelmäßig in die Kirche ging und mich fast jeden Tag auf den Friedhof mitnahm.
Jedes Jahr zu Ostern wollte ich meine Großmutter begleiten, um "Osterwasser" zu holen; Wasser mit besonderen Kräften, die es nur am Ostersonntag hat. Es ist ein Ritual, dessen Wurzeln in vorchristlicher Zeit liegen. Damit das Ritual erfolgreich ist, muss man am Ostersonntag vor Sonnenaufgang aufstehen und mit einem Gefäß zu einer bestimmten Quelle gehen, ohne ein einziges Wort zu sagen. Dort fängt man Wasser in dem Gefäß und kehrt schweigend nach Hause zurück. Zu Hause muss man sich mit diesem Wasser waschen, um sich von Krankheiten oder vielleicht sogar Sünden zu reinigen. Erst danach darf man wieder sprechen.
Leider hat mich meine Großmutter nie mitgenommen, weil sie nicht glaubte, dass ich still sein würde. Dennoch mochte ich das Ritual und jeden kleinen Brauch rund um Ostern mit seiner Mischung aus christlichen und heidnischen Elementen. Und auch die Familienfeiern rund um Ostern waren alle viel entspannter als die um Weihnachten. Wasser und Entspannung waren für mich also schon früh miteinander verbunden.
Wasserrituale, Mythen & Co.
In den folgenden Jahren lernte ich immer mehr Rituale rund um reinigendes Wasser auf der ganzen Welt kennen. Ich studierte Ideen und Verhaltenweisen aus verschiedenen Kulturen und Mythologien aus Polynesien, Melanesien, Asien, Afrika, Amerika und Europa. In Polynesien spielt Wasser natürlich eine besondere Rolle in der Mythologie und Geschichte. Eines meiner Hauptinteressen als Teenagerin und später an der Universität war es, zu verstehen, wie das Christentum in der Lage war, so viele Menschen und Kulturen auf der ganzen Welt zu zerstören, und gleichzeitig Menschen zum christlichen Glauben zu bekehren; wie es überhaupt zu erklären war, dass sich manche religiöse Gruppen oder andere Kollektive anderen gegenüber als höherwertig verstanden. Und letztlich, wie es Menschen hervorbrachte, die oft so handelten wie meine Großmutter, indem sie christliche (oder andere) Rituale mit lokalen vorchristlichen (oder anderen) Ritualen kombinierten, von denen einige verboten waren, andere nicht, und so in ihrer eigenen Art von Synkretismus neue Ideen, Formen und Verhaltensweisen schufen. Sie lebten diese "Ambiguitätstoleranz" bzw. Toleranz gegenüber Mehrdeutigkeiten und (vermeintlichen) Widersprüchen.
Ich interessierte mich dafür, welche Glaubensinhalte, mythischen Themen und Göttertypologien universell waren - wie etwa die Rituale zur besonderen Reinigung durch Wasser. Welche Rituale und Konzepte in der gleichen Sprachfamilie zu finden waren, wie das Weltenei/kosmische Ei "schwimmend auf dem Wasser" als Beginn aller Zeiten, in denen die Welt erschaffen wurde. Die indoeuropäischen Sprachen teilen alle dieses kosmische Konzept. Das gilt auch für einige andere Sprachgruppen und Kulturen in der Welt. Und es hat mich interessiert, wie sich die philosophischen und religiösen Lehren und Praktiken über Jahrtausende hinweg gegenseitig beeinflusst haben und welche Lehren einfach auf der Tatsache beruhen, dass wir als Menschen im Denken und Fühlen gleich strukturiert sind und daher die gleichen Erfahrungen in dieser Welt teilen, da wir alle die Welt als verkörperte Wesen wahrnehmen.
Ich studierte Ethnologie, Politik und Öffentliches Recht/Völkerrecht und nebenbei privat auch Geschichte verschiedener Epochen, Räume und Kulturen, Religionswissenschaften und Philosophie, denn ich wollte verstehen; wollte Antworten auf meine Fragen finden. Verstehen, welche Einsichten Menschen in verschiedenen Epochen und an verschiedenen Orten hatten und haben.
Und ich lerne immer noch jeden Tag neue Dinge dazu.
Einige meiner persönlichen Erfahrungen mit Wasser
Bis zu meinem 30. Geburtstag glaubte ich, ich sei, astrologisch gesehen, ein Feuerzeichen. Das glaubte ich, bis ich erfuhr: "Nein, Nora, du bist ein Wasserzeichen". Im Sinne einer kreativen Beratung könnte man sagen, dass diese Jahre auch der Beginn eines neuen, erstmal holprigen Weges waren, auf dem ich den Raum für neue kreative Prozesse öffnete, gegen Wände rannte und der Raum durch äußere Zwänge und innere Reaktionen wieder geschlossen wurde. Aber das hatte mit Astrologie nun wirklich nichts zu tun. Was die Astrologie betrifft, so erfuhr ich drei Jahre später, in meinem beruflichen aber auch engsten persönlichen Umfeld, wie wichtig die Astrologie für einige Menschen in dieser Welt ist und dass sie bei der traditionellen indischen Partnerwahl eine große Rolle spielt. Ich erfuhr, dass einige der modernsten Nutzer von technischen Geräten und IT Ingenieur:innen in den größten Tech Firmen der Welt kein Problem damit hatten, diese Tradition zu akzeptieren und mit ihr auf ihre eigene Weise umzugehen. Auch hier schien die Toleranz gegenüber Mehrdeutigkeiten (Ambiguitätstoleranz) sehr hoch zu sein. Ein weiteres Jahr später lernte ich etwas über Aszendenten und ihre Bedeutung, und dass mein Aszendent ein Feuerzeichen ist. Ich trage also zwei verschiedene, eigentlich gegensätzliche Elemente in mir, wobei wiederum das Wasser die Grundlage bildet. Manche Leute sehen in dieser Kombination Kernindikatoren für meine Persönlichkeit, mein Verhalten und meine Herausforderungen im Leben. Ich schätze, ohne einen engeren Kontakt mit Menschen aus Indien hätte ich nie mehr über diese astrologischen Dinge herausgefunden. Aber gut, ich habe es getan. Und heute ist das Internet voll von Artikeln über Astrologie, die den Menschen helfen sollen, ihre eigene Identität zu finden.
Varanasi, Indien
Verschiedene Wendungen in meinem Leben führten auch dazu, dass inicht mehr zu meinen Freunden und Familie nach Australien zurückreisen konnte und meine regionalen Forschungsschwerpunkte auf Europa und den Mittelmeerraum legte. Dennoch habe ich, so gut es ging, mein Leben intensiv und freudig gelebt und der Suche nach guter Balance meiner Verantwortungen im Berufs- und Privatleben gewidmet. Ende 2019, nachdem ich endlich die richtigen Leute und die richtige medizinische Behandlung gefunden und mit den richtigen Leuten zusammengearbeitet hatte, war ich sogar in der Lage, Europa wieder zu verlassen und zu Deep Diwali nach Varanasi zu reisen. Varanasi ist die heiligste Stadt für Hindus. Seit meine Freundin dort für ihre Masterarbeit und ihre Doktorarbeit geforscht hat, wollte ich sie eines Tages begleiten. 2019 hatte ich endlich die Gelegenheit dazu. Deep Diwali in Varanasi findet zwei Wochen nach dem wichtigsten hinduistischen Fest, Diwali, statt. Das Fest des Lichts, bei dem der Sieg des Lichts über die Dunkelheit gefeiert wird (klingt ein bisschen wie Ostern oder Sol Invictus, aus dem später Weihnachten wurde, oder? Yepp. Auch die Feier des Lichts/Lebens/des Guten über die Dunkelheit/Tod/das Bösen, ist in vielen Kulturen verbreitet. Zum Glück!). Deep Diwali wird im Zuge dessen gefeiert, aber mit einem etwas anderen Schwerpunkt. Ich habe vorher versucht, von ehemaligen Kollegen, die dort aufgewachsen sind, ein paar Ideen und Geschichten über das Leben in Varanasi zu bekommen, aber leider hatten wir kaum Zeit, uns näher damit zu befassen. Ich bin also hingefahren, ohne viel zu wissen. Ich wusste nur, dass ich Aghoris sehen würde. Ich habe Aghoris gesehen. Und ich besuchte die nächtlichen Aarti-Rituale am Fluss Ganges und die heiligen Waschungen und Bäder der Pilger:innen am Morgen. Ich besuchte auch die wichtigsten touristischen Stätten der hinduistischen, buddhistischen, islamischen und indischen Nationalgeschichte und einige der hunderten von Tempeln in der heiligen Stadt. Während meines Aufenthalts in Varanasi konnte ich auch Sarnath, eine Gründungsstätte des Buddhismus, besuchen und hatte eine kurze Diskussion mit dem Reiseleiter darüber, dass auch vorchristliche europäische Kulturen die Planeten für Götter hielten (halten?) oder sie zumindest nach Göttern benannten. Aber hauptsächlich genoss ich die wunderschöne Landschaft dieses besonderen Ortes auf der Erde an den Ghats; die Ghats und der heilige Fluss Ganges, in den alle Hindus nach ihrem Tod ihre Asche geworfen wissen wollen, um ihre Seele vor der Wiedergeburt zu bewahren und ihr ewigen Frieden zu ermöglichen. Varanasi, genau wie Indien, ist ebenfalls voller Widersprüche und Mehrdeutigkeiten. So viele Gottheiten und Religionen. So viele Riten und Ideen. Und dann ein Ort des ewigen Friedens in einer Stadt, die sich schwer tut, einen Frieden zwischen den Gruppen und einen Frieden mit ihrer Geschichte zu finden. Wo ist hier die Ambiguitätstoleranz? Der lebenspraktische "In-Einsfall-der-Gegensätze", den der Neuplatonismus und viele andere Weisheitslehren als das beschreiben, dem wir alle entgegenstreben? Dem alles Sein entgegenstrebt?
Der Ganges ist nun auch für mich ein Fluss mit einer großen persönlichen Bedeutung, da ich dort eine wichtige Lebensentscheidung getroffen und meinen Willen bekräftigt habe, meinen Weg weiterzugehen .
Go with the flow = mit dem Strom schwimmen?
In meinen Zwanzigern durfte ich aufgrund meiner gesundheitlichen Probleme nicht mehr schwimmen. Schwimmen war jedoch etwas, das ich immer sehr mochte. Nicht das "halbnackt am Strand liegen", sondern im Wasser sein, schwimmen, treiben, tauchen. Ja, Wasser ist wirklich mein Element! Und in den letzten 1,5-2 Jahren, seit meinem Besuch auf Sizilien, der Insel der Wiedergeburt, wo Hades (Gott und Herrscher der Unterwelt) und Demeter (Göttin des Lebens und der Fruchtbarkeit und Mutter von Persephone), um Persephones Anwesenheit auf der Erde oder in der Unterwelt ringen, genieße ich es wieder sehr, am und im Wasser zu sein. Bevor das wieder möglich war, hatte ich einige lebensverändernde Begegnungen mit Menschen, die mich wohl erst dorthin gebracht haben. Sie gaben mir Geschichten, Sätze und Erfahrungen mit auf den Weg, die im jeweiligen Moment und in den darauffolgenden Jahren viel in mir nachhallten. Einer dieser Sätze ist 2017 in mein Leben getreten und hat mit Wasser zu tun und sicherlich hat ihn jeder von euch schon einmal gehört. Es ist "going with the flow" oder, um es in einem anschaulicheren Tonfall zu sagen: "Just go with the flow!". Merkwürdigerweise, wurde der Satz mir gesagt, nachdem ich für meinen Teil den altgriechischen, vorchristlichen Satz „panta rhei – alles ist im Fluss“ erwähnte. Habe ich also selbst den Aufbruch im Rahmen meines flows initiiert? Offenbar provozieren, co-kreieren, wir also tatsächlich durch unser Handeln, wie andere uns begegnen und wie unser Fluss des Lebens fließt.
Nun gut. Da stand nun die Aufforderung im Raum, dass ich „just with the flow“ zu gehen hätte. Dieser Satz hat mich in den letzten Jahren sehr beschäftigt. Aufgewachsen zwischen protestantischer Arbeitsmoral, leicht hedonistischem Lebenswandel, Erwartungen des sozialen Umfelds, die riskante Studienwahl "brotloser Künste" und dem verantwortungsvollen Wechsel "in die Wirtschaft" gab es verschiedene Hintergründe, vor denen ich den Satz wirken lassen konnte. Nach Jahren harter Arbeit im akademischen, geschäftlichen und persönlichen Leben, in denen ich mich in alle möglichen Themen vertieft habe, in denen ich versucht habe, eine verantwortungsbewusste Weltbürgerin, Partnerin, (Enkel- & Schwieger-)Tochter, Schwester, Freundin, Tante, Cousine, Forscherin, Lehrerin, Trainerin, Coach, Beraterin, Mitarbeiterin, Teammitglied und Mensch zu sein. In denen ich versucht habe, die vielen verschiedenen Welten, Bedürfnisse und Ziele, mit denen ich konfrontiert war, in Einklang zu bringen, klang dieser Satz sehr vielversprechend. "Just go with the flow! Sei mehr wie ich, Nora, und denke nicht zu viel nach und nimm die Arbeit oder deine Pflichten nicht zu ernst. Genieße einfach. So einfach ist das."
Aber irgendetwas fühlte sich an diesem Satz und der Art, wie er mir offenbart wurde, seltsam und falsch an. Mein Körper lehnte sich manchmal sogar richtig dagegen auf. Genoss ich nicht mein Leben? Folgte ich nicht meinen Träumen unter den gegebenen Umständen? Genoss ich nicht leckeres Essen, Reisen, Bücher, Abende mit Kolleg:innen, Freund:innen und meinem Partner? Und versuchte ich nicht auch, dies nicht auf einer oberflächlichen oder hedonistischen Ebene zu tun, sondern nach Sinn und Bedeutung zu suchen? Was genau war denn dieser Flow, wenn es nicht das für mich viel aussagekräftigere „panta rhei“ war? Bedeutete es, der Masse/dem Strom zu folgen und tatsächlich das zu tun, was andere von mir erwarteten, ohne darauf zu achten, dass ich mich innerlich zerrissen fühlte? Musste ich dankbarer werden für alles, was ich hatte und meine Träume einfach abhaken? All die abweichenden Erwartungen von Professor:innen, Chef:innen, Eltern, Partner, Kolleg:innenen oder der Peer Group erfüllen? Sollte ich einfach folgen und tun, was eine Person, die sexuell und/oder romantisch an mir interessiert war, von mir wollte? War es wirklich so einfach (im 21. Jahrhundert (in Europa)), alle Bindungen und Verantwortungen fallen zu lassen, wenn etwas "nicht mehr funktioniert"? War der Flow das Gefühl, das wir haben, wenn wir von einer Idee oder einer Tätigkeit völlig absorbiert werden und kaum Erschöpfung oder das Vergehen der Zeit spüren, wenn wir in dieser Tätigkeit sind? Oder, wenn wir wandern und irgendwann alle Gedanken ruhen und wir einfach nur einen Schritt vor den anderen setzen und alles innen und außen sein lassen können? Bedeutete der Flow, dass ich meinen Träumen folgen und hart arbeiten sollte, um sie wahr werden zu lassen? Nun, das konnte natürlich nicht gemeint sein, denn mit dem Strom zu schwimmen/"going with the flow" und hart an den mir wichtigen Themen zu arbeiten, wurden mir von dieser Person wie Widersprüche präsentiert. Die Person selbst war hin- und hergerissen zwischen persönlichen Träumen und Wünschen und den Erwartungen der Gesellschaft, der Familie und der Arbeit. Wie ernst konnte ich also die Aussage dieser Person nehmen? Wie verlässlich war dieser Ratschlag? Wie hilfreich und gesund für mich?
Nach Jahren einiger schwieriger lebensverändernden Entscheidungen - wie der am Ganges - und harten Konsequenzen sowie harter und herausfordernder innerer Arbeit, habe ich für mich herausgefunden, dass "mit meinem eigenen Fluss/flow zu schwimmen" die viel bessere Form des Ausdrucks und des Lebens ist. Zumindest für mich. Es beschreibt eine viel bessere Balance und Verwurzelung; eine viel wohltuendere Art, geerdet zu sein. Eine bewusste Handlung und Praxis, die durchaus voller Leichtigkeit sein kann. Ein viel tieferes Atmen und Aufsaugen des Lebens und ein Humor, der wohlwollend und nicht verletzend ist. Und es waren die Menschen, die mir in den letzten Jahren am meisten geholfen und mich unterstützt haben, die "den Fluss/flow" tatsächlich in genau dieser Form beschreiben. Es ist ein Fluss des Bewusstseins, der inneren Weisheit, der Intuition, der Verbundenheit, der Resilienz, des Selbstbewusstseins, der Selbstwirksamkeit, des Selbstmitgefühls und der Praxis, in der wir jeden Tag besser werden müssen. Ein Fluss, der mir endlich die Chance gab, Frieden mit dem Kampf zu schließen, Welten zu vereinen, die sich nicht vereinen lassen wollten. Und somit war meine Form/ mein flow, die Konflikte zu lösen/ zu transzendieren / zu integrieren die/der, diese Welten zuverlassen. Ein Fluss, der mir viele Antworten auf noch offene Fragen gab, die mein bisheriges Leben bestimmt hatten. In meinen frühen Dreißigern brachte mich die Dringlichkeit, die Antworten auf viele meiner noch offenen Fragen zu finden, ins Handeln. Nicht in wissenschaftlicher, akademischer oder beruflicher Hinsicht, sondern in der Praxis des täglichen Lebens. Ich musste mich auf meine Gesundheit und meinen Weg konzentrieren und auf nichts anderes.
Die Gesundheit hatte absolute Priorität, und so fügte sich nach und nach alles andere. Diese Entscheidung brachte mich dazu, mich immer mehr zu öffnen, all meine Fragen lauter als je zuvor zu stellen und all den Mut, die Kraft und die Kreativität einzusetzen, die mir noch blieben, um via den Prozess des Mich-ausprobierens, des Scheiterns, des Irrens, über Reflexion, Kontemplation, erneutes Ausprobieren, Scheitern, Irren usw. voranzutasten. In diesem Prozess gab es noch nicht viel, was den Namen „Fluss/flow“ verdient hätte. Ich hatte zu lange gewartet und musste wieder ganz neu anfangen zu gehen/zu schwimmen/mich zu bewegen. Eine Freundin sagte mir mal, "vielleicht ist es gar nicht so gut, dass Du so stark bist. Vielleicht hat Deine Stärke Dich einfach zu lange durchhalten lassen?"Ich weiß es nicht.
Auf jeden Fall gab es zu dem Zeitpunkt nur eine tiefe innere Stimme, die wohl immer schon da war, aber die nun immer lauter schrie. Hätte ich sie rausgelassen, wäre alles zusammengebrochen. Wie Shiva, Kali oder die Götterdämmerung alles zerstören. Das konnte und wollte ich nicht riskieren. Ich hatte ja Versprechen gegeben, denen ich mich verpflichtet fühlte. Nun, heute weiß ich, dass all die tradierten mythischen Zerstörungsgeschichten auch stets einen Neubeginn in sich tragen. Der Neuanfang kam letztlich auch.
Also gut. Zurück zur Stimme. Manche nennen es Berufung. Doch dieses Wort würde ich nicht wählen wollen. Und ich bin dieser Stimme gefolgt und aus meiner inneren Emigration Schritt für Schritt herausgekommen, um dieser Stimme (Berufung?) zu folgen. Und damit verlor ich bis dahin wichtige Menschen und Glaubenssätze und Strukturen. Vieles; nahezu alles, was mir bis dahin Halt gegeben hatte. Zugleich kamen schließlich nach und nach die nun "richtigen" Menschen und die richtige innere Einstellung/Haltung, der Raum für Leichtigkeit, Spontanität und Ruhe und einer gefühlten Explosion angestauter Energien, die mir halfen, die Antworten zu finden. Damit kann ich mich jetzt auf neue Fragen konzentrieren, die mit diesen Antworten kamen. Fokussieren, damit ich mehr und mehr nicht-hilfreiche Ratschläge, Glaubenssätze und Menschen dankend ablehnen oder loslassen und frei weiterlernen kann, während das Leben voranschreitet. Und damit kann ich, so hoffe ich, anderen eine viel bessere Hilfe sein als zuvor.
Hilfreiche Worte von "den richtigen Leuten"
Was meine ich mit "richtigen“ oder „hilfreichen Menschen"? Zum einen meine ich Menschen, bei denen ich genau die Person sein (und werden) kann, die ich bin, und das bekomme, was ich brauche, um meinen Weg zu gehen. Außerdem bin ich von Menschen, die in Momenten des Abschieds Sätze wie "Du wirst immer in meinem Herzen sein" sagten, zu Menschen übergegangen, die mir sagen "Das ist kein Abschied oder Lebewohl. Ich werde immer bei dir sein, wohin du auch gehst. Konzentriere dich einfach auf deinen Weg". Und das fühlt sich viel beruhigender und freier an und entspricht viel mehr dem Fluss/flow, mit dem ich gehen möchte, als "dem Fluss/flow", von dem mir ein paar Jahre zuvor erzählt wurde, der mehr den Geschmack von "sich nicht um das Leben kümmern" oder einfach "auf das Leben reagieren" hatte als letzteres. In der schwedischen Serie, Bonus Family, gibt es bspw. in einigen Episoden einen Kampfsporttrainer, der das Leben (für sich selbst) sehr leicht nimmt, der diesen Satz "just go with the flow" auch sehr oft verwendet. Für mich tut er das auf diese "unbekümmerte" bzw. „sich nicht um andere kümmernde“ Weise. Und er schafft es nicht, andere dort abzuholen, wo sie stehen, und ihnen zu ermöglichen, ihren eigenen flow zu finden und auszuleben. Natürlich ist es schön, für die Ewigkeit im Herzen von einem besonderen Menschen zu sein. Aber ich möchte mich nicht an einem bestimmten Ort gefangen fühlen. Ich ziehe es vor, meinem Fluss zu folgen und die Liebe, Fürsorge und Weisheit der richtigen Menschen auf meinem Weg dabei zu haben. Und das Wissen, dass jemand auf eine gute Art und Weise immer bei mir ist, hat mehr mit mir zu tun und weniger mit der Person, die diesen Satz sagt. Es hat etwas selbstloses von der Person, die es sagt. Und die Beziehung, die hierin ausgedrückt wird, ist sehr anders im Vergleich zu der Person, in deren Herzen ich mich befinde oder die, womöglich, eigentlich will, dass ich ihrem Fluss folge (?). Meine verstorbenen Großeltern sind immer bei mir, so hat man mir schon als Kind gesagt. Das ist gut zu wissen. Meine Tante bestärkte dies gerade in ihrem kürzlich erschienenen Buch. Warum sollten also andere nicht dasselbe tun können? Meine Familien und meine Freund:innen in Australien, Deutschland, Indien, Ghana und anderswo tun es auch. Alles ist mit allem und jeder ist mit jedem verbunden. Ist das nicht schön, tröstend und beruhigend?
Cape Coast, Ghana
Das letzte Mal, dass ich den Satz "Ich werde immer bei Dir sein, egal wo du bist", hörte, war von einem Rastafari-Tänzer und Musiker in Ghana letztes Jahr an meinem letzten Abend in Cape Coast, im Land der Fante, am Strand. Er ist ein Ga aus Accra und verließ laut eigener Aussage seine Eltern, um seiner Berufung, seiner Leidenschaft zu folgen. Die ist das Tanzen, Musizieren und das Leben mit den anderen Rastafarians. Die Wochen zuvor hatten wir an eben diesem Strand sehr interessante Gespräche über das Leben, Spiritualität, Menschen, Meditation geführt, Musik gehört und getanzt. Der Strand liegt direkt neben Cape Coast Castle.
Wiederum ein sehr beeindruckender Ort der Widersprüche und Mehrdeutigkeiten. Rastafari-Tänzer und -Trommler, die tagsüber meditieren oder Kurse für Tourist:innen geben und abends für ihren Lebensunterhalt Musik machen. Straßenkünstler:innen, die ihre Werke verkaufen, Tourist:innen, die die Sonne, das Meer und das Leben genießen. Und ein Ort, an dem Wasser und Christentum eine traurige historische Interaktion hatten.
An der Küste Ghanas gibt es mehrere Forts oder so genannte "Castles", in denen die Europäer:innen in der Kolonialzeit die ghanaische und westafrikanische Bevölkerung gefangen nahmen und versklavten.
Diejenigen, die die mehrmonatige Gefangenschaft überlebten, wurden per Schiff in die Amerikas und Europa gebracht. Die Gefühle, die ich beim Besuch der “Castles” hatte, ähnelten denen, die ich beim Besuch von Konzentrationslagern in Europa hatte.
Jedes Mal brauchte ich Stunden oder Tage, um mich zu beruhigen und die Erfahrung zu verarbeiten. Und die Menschen, mit denen ich an diesen Tagen virtuell oder persönlich kommuniziert habe, können sicher bestätigen, dass ich nicht "Herrin meiner Emotionen" war. Wichtige Erkenntnisse und Einsichten hatte ich trotzdem - oder vielleicht genau deshalb?
Ein wichtiger Teil dieser "Castles" war immer die Kapelle. Die Kapelle direkt über den Kerkern. Und die Führungen wurden von Pilger:innen aus den USA besucht, die auf der Suche nach ihren Wurzeln waren und auf den Spuren ihrer Vorfahren wandelten, aber auch von Tourist:innen aus europäischen und afrikanischen Ländern. Ich erinnere mich noch gut an einen christlichen Mann aus Ghana, der einfach nicht begreifen konnte, wie die Kirche an einem Ort solchen Grauens und solcher Tragödien anwesend sein kann. Die einzige Erklärung, die er dafür hatte, war, dass "der Teufel" dafür verantwortlich sein müsse. Unser Reiseleiter tat sein Möglichstes, um zu betonen, dass "der Teufel" nicht für alles Schlechte in dieser Welt verantwortlich gemacht werden könne. Dass die “castles” als Mahnmale der Geschichte da sind. Als Mahnmale und Warnzeichen dafür, zu welch schrecklichen Dingen unsere Spezies fähig ist, und als Warnzeichen dafür, dass Sklaverei und Folter keine bloße Geschichte sind, sondern heute stattfinden; jeden Tag. Und dass wir als Menschen die Verantwortung haben, sie zu bekämpfen, wo immer wir können.
Trotz der vielen traurig berührenden Orte und Geschichten, fand ich in Ghana ein Gefühl des inneren Friedens und der Heimat. Und dort in Ghana, am Atlantischen Ozean, traf ich eine weitere lebensverändernde Entscheidung. Ich beschloss, meinen Wunsch zu verwirklichen und nicht "nur eine weitere deutsche/europäische NGO in Ghana" zu gründen, sondern eine gemeinnützige Organisation mit realistischen Projekten, die von den Menschen vor Ort selbst kommen, zu gründen. Hiermit wollte ich meinen Teil dazu beizutragen, die Welten, die offen dafür sind, auf eine gute und gesunde Weise zu verbinden und die Menschen dabei zu unterstützen, ihre eigene gesunde Welt zu schaffen. So bekam der igdra space hier eine klarere Kontur. Und obendrein habe ich selbst auch die Chance, mich künstlerisch und kreativ auszutoben 😉.
Von Tempeln und Kirchen
Cape Coast (Ghana) und Varanasi (Indien) haben noch einen weiteren interessanten Aspekt gemeinsam. So wie Indien viele hinduistische Tempel und andere religiöse Stätten aus alter und neuer Zeit, Götter und Rituale hat, die tief in der Geographie und den Traditionen verwurzelt sind, gibt es in Ghana viele verschiedene Kirchen und Moscheen, die sich an den Straßen reihen. Eine der Fragen, die die Menschen in Ghana stellen, wenn sie dich kennen lernen, lautet: "In welche Kirche gehst du?". Gleichzeitig gibt es traditionelle Priester:innen und Heiler:innen, die ihre Rituale praktizieren. Die Menschen können sich mit ihren Sorgen an sie wenden, und die Priester:innen arbeiten mit ihnen zusammen, um zu heilen und zu helfen. Synkretismus gibt es also überall dort, wo wir Menschen leben. Auch mir wurde angeboten, an einem solchen Ritual für meinen ghanaischen Namen teilzunehmen, aber ich habe höflich abgelehnt. Vielleicht, weil ich immer noch ein wenig enttäuscht war von der alten Sizilianerin, die mir ein Jahr zuvor die Tarotkarten gelesen hatte und die letztlich doch auf Aussagen, die ihr über mich erzählt wurden, aufbaute? 🤔
Zurück zum Fluss / Flow
Einer der oben erwähnten hilfreichen Menschen, empfahl mir letztes Jahr, mehr über die Lehren von Thomas Hübl zu erfahren. Aber ich war noch damit beschäftigt, private Kapitel abzuschließen und neue Pläne für lebensverändernde Maßnahmen zu schmieden. Dieses Jahr empfahl mir eine andere Person ebenfalls Thomas Hübl. Und nun widmete ich mich seinen Texten und Kursen. In Thomas Hübls Kurs "Die Kunst der transparenten Kommunikation" hörte ich viel von dem, womit ich mich bereits zuvor beschäftigt hatte und worüber ich gelesen, recherchiert und diskutiert hatte. Und natürlich lernte ich im Laufe meines Lebens und in Thomas' virtuellen Lektionen mehr darüber, wie wir uns persönlich weiterentwickeln können und wie wir Wege finden können, Welten zu verbinden, um eine bessere Lebensweise für uns alle zu schaffen. Und in Thomas' Kurs spürte ich eine innere Resonanz, Ruhe und ein Gefühl der Zustimmung zu meiner Interpretation des Satzes “go with the flow”:
Thomas Hübl endet seinen Kurs mit der Aussage, die ich wie folgt wiedergeben möchte: Viele Menschen lassen sich einfach treiben in dem Sinne, dass "das Leben ihnen wie ein Theaterstück passiert". Sie sind sehr passiv und rein reaktiv. "Das ist nicht das, was wir wollen", sagt er. "Wir sind eher die Regisseure", die sich aktiv beteiligen und das Leben mitgestalten. Wir wollen das Leben bewusst leben, unser eigener Fluss sein und anderen so begegnen, dass sich zwei Flüsse treffen und zusammenfließen. Sie fließen zusammen, tauschen Wasser, Moleküle und alles, was sie sind, aus und trennen sich eventuell früher oder später wieder oder verwandeln sich in einen See oder das Meer.
Diese Aussage gefällt mir sehr, weil sie genau beschreibt, was mein Verständnis von "Leben im Fluss" auf eine gute und gesunde Weise bedeutet. Er beschreibt unser Sein und Kommunikation mit unserer Innenwelt und der Außenwelt als Tanz mit dem Leben, den Menschen, die uns begegnen und somit letztlich, wie die Neuplatoniker als "Tanz um das Absolute". Ich bin froh, dass Schwimmen und Tanzen wieder fest zu meinem Leben gehören.
Eine letzte Anekdote
Thomas Hübls Metapher erinnerte mich auch an ein Arbeitserlebnis. Es war in meinen ersten Jahren im Projekt- und Kommunikationsmanagement, als ich es wagte, meinem Hang zum Pathos - den nun mittlerweile alle Leser:innen bemerkt haben müssten 😉- nachzugeben und einen Satz aus einem Lied von Chris De Burgh zu paraphrasieren, um den kulturellen Veränderungsprozess zu visualisieren, der vor dem Unternehmen lag. Die Zeilen lauten: „Just like every drop of rain many drops can someday make a river. And many rivers go down to the sea and the sea rolls on forever. “
Schluss
Heute habe ich Euch einige Einblicke in die Bedeutung des Wassers für mein Leben gegeben. Ich habe von einigen Ritualen und Metaphern rund um das Wasser und einige wichtige Entscheidungen und Erfahrungen in der Nähe des Wassers in den Ländern unseres Gründungsteams, Indien, Ghana und Deutschland berichtet. Und ich habe ein paar Hinweise darauf gegeben, dass ich nicht nur Erfahrung im Change Management für andere habe, sondern in den letzten Jahren meine persönlichen großen Transformationsprozesse durchlaufen habe. So wie es mir 2019, eine Krankenschwester als Auftrag mitgab: "Jetzt sind Sie die Change Managerin für Ihr eigenes Leben." Und ich bin dankbar für alle, die mich dabei unterstützt haben.
Ich wünsche Euch allen frohe Ostern und vielleicht findet Ihr ja Euer eigenes (Wasser-)Ritual, das Euch die Chance für einen Neustart gibt und dafür, Euren eigenen Flow zu finden, damit ihr Euch darin üben könnt, Ihr selbst zu sein und Eure eigene Kreativität zu entfalten.
Alles Gute!
Nora
Comments