Vor 5 Jahren lernte ich das erste Mal Diwali zu feiern. Ich arbeitete in einer indischen Firma als Change Managerin und hatte schon die ganzen Monate zuvor viel Energie dafür eingesetzt, dass sich die einzelnen Personen aus unterschiedlichsten Regionen der Welt (vor allem Indiens) und verschiedensten Arbeitskontexten (IT Infrastructure, ITSM, ERP, Non-ERP, Change und Communication etc.) willkommen fühlen und in einen gesunden und guten Modus Operandi finden.
Rund um Diwali machte sich eine enorme Erschöpfung über uns allen breit und viele meiner Kolleg:innen aus Indien hatten Heimweh nach ihren Familien, nach dem Essen, Gerüchen, Ritualen und dem einzigartigen Gefühl, das nur diejenigen kennen, die von klein auf mit dem Feiern von Diwali großgeworden sind. So versammelten sich einige von ihnen abends, um gemeinsam in traurig-süßen Erinnerungen zu verweilen und Freude und Verbundenheit zu teilen.
Damals war Indien noch eine sehr fremde Welt für mich. Ich kannte es maßgeblich durch Randerscheinungen meines Ethnologiestudiums sowie den Erzählungen und Forschungen meiner Kommiliton:innen und Forschungskolleg:innen.
Die auf einzigartige Weise verwobenen Töne, Klänge, Farben und Gerüche spiegeln das wider, was der Subkontinent Indien über tausende von Jahren erlebt hat. Ein wundersames Amalgam aus Wissenschaft, zivilisatorischem Wachstumseifer, Naturnähe, Spiritualität, Größe, Zerstörung, Zartheit, Verletzlichkeit und bewusster sozialer Distinguiertheit.
Ich vertiefte mich über die Jahre darin, Indien und Menschen aus Indien besser kennenzulernen und besser zu verstehen. Ich baute enge Beziehungen auf, die mich in völlig neue innere und äußere Welten führten und mich an den Rand meiner Möglichkeiten brachten. Und ich wuchs in vielerleri Hinsicht über mich hinaus und in mich hinein.
Ich lernte mehr über die indische Geschichte, sowohl die antike als auch über die jüngsten Ereignisse, die sich unmittelbar auf die Gräuel des Kolonialismus und Machtverhältnisse in der Welt bezieh(t)en und aus ihnen heraus erklärbar sind.
Ich schaute Dokumentationen über die Teilung Indiens im Rahmen seiner Unabhängigkeit. Ich las über den bewussten durch die Kolonialmacht Großbritannien ausgeübten Genozid durch Hunger im Osten des Landes, welcher aus einem eurozentristischen Weltbild eine Randnotiz des Zweiten Weltkrieges war.
Ich schaute den Film Mississippi Masala und vertiefte mich in die Lektüre über indische Verwalter in afrikanischen Ländern und die Verwobenheit Indiens sowohl als Objekt als auch als Subjekt und Akteur/Agent im Machtspiel des Kolonialismus und in der heutigen IT und Geschäftswelt.
Ich lernte, wie sich kollektive Traumata kulturell spezifisch, menschlich individuell und doch universal gleich äußern und wie Traumainformiertheit in Führung und alltäglichem Miteinander uns allen helfen kann.
Ich lernte, woher eine bestimmte Form von Melancholie in den Augen und Herzen von uns Menschen kommt und wie zugleich unbändige Freude am und im Leben ihren Platz findet.
Ich lernte, wie Gewalt sich Bahn bricht und warum.
Ich lernte, dass Oberflächlichkeit kein Privileg der sogenannten westlichen Welt ist und auch im, für seine Transzendenz und Spiritualität berühmten, Subkontinent Bharat ihren Raum findet.
Ich lernte viel über mich und den inneren Reichtum und die Vielfalt, in der sich Liebe und Verbundenheit auszudrücken vermögen.
Danke an all die Menschen, die mir Indien in seinen vielfältigsten Dimensionen und Diwali als ihre wohl beeindruckstendste Ausdruckform näher gebracht haben.
Nora
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