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Sollten wir nicht lieben, statt zu hassen?




Mit Blick auf das ein oder andere Demoplakat in den vergangenen Tagen und mit Blick auf einige Posts in den letzten Monaten kommen mir Fragen auf, ob wir gerade alle wirklich auf angemessene Art und Weise die Lehren des „nie wieder“ gezogen haben und heute leben. „Wir hassen Nazis“ oder „wir hassen die AfD“ erscheint mir kontraproduktiv und gar als ein Oxymoron. Ein Widerspruch in sich.


Erst im vergangenen Jahr in den Rassismuspräventionsveranstaltungen, die wir im igdra space mit Dr. Moris Samen und in zahlreichen Gesprächen mit ihm herausgearbeitet haben (Danke nochmal an dieser Stelle an die Carl-Heinrich-Esser Stiftung in Mannheim, die uns finanziell unterstützt hat) wurde allen Teilnehmenden wieder klar, dass Rassismus eine Form von Hass ist. Rassismus ist eine Lehre künstlicher Trennung und Wertung, die schon lange verworfen doch in sehr vielen Regionen der Welt in je spezifischer Form lebendig gehalten wurde und wird. Wie ein Rettungsring, wenn Menschen Angst vor dem Schwimmen haben.

Alles, was auf Trennung statt Verbindung, auf Wertigkeit statt Liebe, auf Verleugnung statt auf Akzeptanz zielt, bündelt sich in der Emotion des Hasses. Hass ist aus Angst heraus geboren. Angst davor, den eigenen Schmerz zu spüren, wie ich es erst gestern wieder bei Christian Meyer lesen durfte. Letztlich also Angst vor dem eigenen Tod.


Viele Psychologen, Medizinkundige und Mystiker in aller Welt wissen seit zigtausenden von Jahren, dass wir durch den Schmerz gehen müssen, um zu heilen. Wir müssen den inneren Tod sterben, um wirklich zu leben. Traumaforscher haben auf neurologischer und Genforschungsebene bestätigt, dass wir Menschen unsere nicht geheilten Wunden an unsere Nachkommen weitergeben und dass wir sogar im Hier und Jetzt die alten Wunden heilen können und so eine positive Zukunft co-creieren können.


Wie wir es in unserem Kunstprojekt „The Nectardoor“ vermitteln, ist es essenziell, dass wir diese emotionale und soziale Intelligenz, diesen inneren Muskel, stärken und den Mut entwickeln, ihn zu gebrauchen. Wir werden hier alle immer mal wieder Fehler machen. Und auch diesen Fehlern dürfen wir mit Liebe begegnen und uns selbst und gegenseitig verzeihen üben.


Dem lebendigen Fluss folgen

Also, Hass und Angst. Hass als Resultat, sich aus Angst vor dem eigenen Schmerz zu weigern, ihn zu fühlen – und ihn dann auf andere zu projizieren.

Hass tötet. Hass als Reaktion auf Angst ist innere Verkrampfung. Innere Verhärtung. Alles, was hart ist, hält Druck nicht lange stand und zerspringt.

Emotionen sind Bewegung. Sie fließen. Panta rhei. Alles fließt. Vor allem das Leben und die Liebe fließen. Lebendigkeit ist Veränderung in Verbundenheit. Panta en parsin. Alles ist in allem. Wenn wir das begreifen und zulassen, können wir gemeinsam tanzen. Uns gemeinsam die Wellen zuspielen und bei Überfluss etwas von unserer Fülle abgeben.  


Dieser Tage in Deutschland gehen viele auf die Straße, weil sie, wie ich, in unserer individuellen und kollektiven Vielfalt in Liebe und Freiheit leben wollen. Weil sie fließen wollen. Weil sie die Wahrhaftigkeit der Verbundenheit von allem erkannt haben und diese für gut befinden und zelebrieren. Weil sie die natürliche Veränderung im Fluss zelebrieren. Und weil sie anerkennen, dass das Leben und seine immer rapideren und größeren Veränderungen beängstigend sind. Und sie sind für alle unter uns und für alles in uns, was Angst vor dem hier entstehenden Schmerz hat und die Schmerzen lieber leugnet, statt sie zu zulassen und in die Heilung und Co-Creation zu gehen, existenzielle und lebensbedrohliche Ängste sind, die ernstgenommen werden wollen.

Wie also können Demokratie- und Vielfaltsbefürworter „wir hassen…“ auf die Plakate schreiben? Wie können Vielfaltsbefürworter gesunde Abgrenzung aus Selbstfürsorge mit schmerzhafter Ausgrenzung anderer verwechseln? Wie können sie Hass mit Hass begegnen, wenn Hass doch genau das ist, was wir als Vielfaltsbefürworter nicht wollen?


Extremisten leben Trennung statt Verbindung. Aus Angst heraus. Sie leben Hass. Also weigern sie sich oder haben Angst davor, ihrem Schmerz zu begegnen und ihn zu fühlen, um zu heilen. 

Was ist das mit den Menschen, die für Demokratie und Vielfalt eintreten und schreiben und schreien „wir hassen die XY“? Damit nähren sie doch gerade die Emotion, die auch diejenigen nähren, gegen deren Vorstellungen sie auf die Straße gehen.

Lasst uns doch viel lieber schreiben, malen, singen und tanzen und feiern, wofür wir auf die Straße gehen. Wofür wir unser Leben hier leben und wie wir das tun wollen, anstatt in den Modus des „Dagegens in Form von Hass“ zu treten.


Also nochmal meine Frage: „Sollten wir nicht lieben, statt zu hassen?“ Sollten wir nicht allen ein Angebot machen, das attraktiver ist als das von Angst und Hass und Trennung?

Wenn letztere auf Schmerzen beruhen, dann sollten wir uns alle einmal ehrlich machen bzgl. der Schmerzen, die wir durch unsere Vergangenheit und durch unsere Gegenwart erlitten haben, erleiden und erzeugen. Sie zulassen, anerkennen und durchfühlen, bis sie sich auflösen. Durch die „Nectardoor“ gehen.


Welche Vision haben wir in Europa für uns und die Welt?

Die europäischen Zivilisationen haben in Europa und in der Welt enorme Schmerzen verursacht. Das allein heute ehrlich anzuerkennen, braucht Mut. Denn hier stecken viel Scham, viel Angst und viele Schmerzen drin verborgen. Auch die Angst vor Rache und vor Verlust durch Forderungen nach Wiedergutmachung durch ehemalige Kolonien, durch Nachkommen der Sklaven, Holocaustopfer, durch Nachkommen derer, die Genozide erlitten haben und derjenigen, die wissen, dass die globale Wirtschafts- und Weltordnung auch nach dem 2. Weltkrieg und der Unabhängigkeit der Kolonien keine faire war und bis heute nicht ist.


Die Ängste vor diesen Schmerzen sind real. Sie lassen sich nicht wegreden oder wegschieben. Und wenn wir es doch versuchen, werden sie noch mehr Schmerz und Hass erzeugen. Lasst uns gemeinsam hinschauen. Gemeinsam anerkennen, was unsere Vorfahren getan haben und wir einander antun und lasst uns gemeinsam neue Visionen und neue Formen des Miteinanders finden. Schauen wir uns nur um: so viele Menschen machen sich auf den Weg. Und so viele Menschen haben über Generationen der Menschheitsgeschichte nie aufgehört, diesen Weg zu gehen. Schließen wir uns diesen an und lassen auch wir unseren Schmerz zu, damit Heilung und Liebe möglich werden. Damit wir im Fluss des Lebens an dem ankommen können, was der Schriftstellerund Künstler, Kahlil Gibran, den Ozean nannte, der die Liebe ist, an/in dem wir - nicht zu eng, sondern jede:r als einzigartiges Wesen und in Verbindung mit uns selbst und zueinander - stehen.


Natur und Poesie sind Schönheit, Kunst und in sich Heilung. Doch es sind auch die handfesten Handlungen und Taten, die gefragt sind:


Weder Deutschland noch Europa haben bisher eine zufriedenstellende Antwort für einen positiven, produktiven und heilsamen Umgang mit alten Wunden und Co-Creation einer positiven Zukunft(-svision) gefunden, geschweige denn eine gemeinsame Vision für Europa als Teil der sich verändernden Welt.

Doch auch hier lohnt es sich, voneinander, miteinander und füreinander zu lernen. Es gibt kein schwarz oder weiß. Die Welt ist bunt und hat viele Grautöne zu bieten. Wir können auf den verschiedenen Dimensionen der Lebendigkeit tanzen. 


Und so können wir von Menschen aus afrikanischen Ländern, die die Lebensweisheit des ubuntu in die Welt tragen, lernen und uns darauf besinnen, dass auch Europa ähnliche Werte von Verbundenheit von allem mit allem kennt und lebendig gehalten hat. Wir können lernen, dass es ok ist, seine Privilegien abzugeben und die Welt deshalb nicht unter geht und wir nicht zerbrechen werden. Im Gegenteil. Wir können in dem Prozess neue Räume öffnen und sie gemeinsam gestalten. Wir können uns fragen, was hat Europa der Welt zu bieten, wenn wir vom Belehrungs- und Ausbeutungspfad konsequent heruntersteigen?

Wo und wie findet jeder einzelne Mensch in Europa seinen und ihren Platz und Raum in der Gesellschaft, um ihr Potenzial zum Wohle aller zu entfalten? Was kann jede:r einzelne von uns tun, damit unser Leben und das Leben aller ein besseres wird?

Wie schaffen wir es, dass Menschen am unteren Ende der Machthierarchie sich nicht gegenseitig beneiden und bekriegen, sondern sich helfen und sich verbinden? Wozu sollten wir uns gegenseitig „Hass und Extremismus“ vorwerfen, wenn wir doch alle nur lieben und leben wollen, ohne Schmerzen und ohne Angst? Wenn wir doch alle unter Ungerechtigkeiten in Macht- und Geldverteilung leiden, doch dabei selbst in einem Land leben, das global zu diesen Ungleichgewichten beigetragen hat? Und was ist uns wirklich wichtiger? In Freiheit, Demokratie, Vielfalt und Selbstverantwortung zu leben, mit dem Preis nicht mehr allzu viel Wohlstand wie früher zu haben oder in Angst, Unterdrückung und auf Ausbeutung basiertem Wohlstand uns darin zu üben, den Schmerz nicht zu spüren und so im Hass auf alles zu leben, was unsere Lebensweise in Frage stellt?


Leadership needs empathy & courage

„Leadership needs empathy, collaboration, innovation, inclusion and emotional intelligence & courage“ hat Natalie Schrogl nach ihrem Besuch des Weltwirtschaftsforums in Davos 2024 auf LinkedIn als Erinnerung für uns alle gepostet. Wenn wir Leader für eine liebevolle, friedvolle und lebendige Zukunft in Freiheit und Verbundenheit sein wollen, dann sollten wir uns alle – im Büro, auf dem Bau, in der Bäckerei, in der Schneiderei genauso wie in unseren Familien, Freundeskreisen, Kommunen, auf der Straße, auf Reisen und auf Social Media, in unseren Gedanken, Umgang mit unseren Emotionen und unserem täglichem Tun auch daran halten, was von Leadern im Hier und Jetzt für die co-creative Gestaltung der kulturellen Transformationen gebraucht wird: Sich ehrlich machen. Wahrhaftig sein. Die Angst und den Schmerz ernst nehmen, wahrnehmen und zulassen. Verbundenheit leben und Freiheit gewähren und leben lernen. Den Mut aufbringen, das eigene Leben gemeinsam mit anderen aktiv zu gestalten. Schwimmen und fliegen lernen. Und dabei immer in sich ruhen und präsent sein üben. Leader im co-creation modus können wir alle sein. Jede:r von uns. Ganz ohne Egoismus und Trennung. In der Großindustrie, wie auf der Kleinkunstbühne.


Gemeinsam schaffen wir das. Da bin ich mir sicher.

Nora

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